„Damit haben wir nicht gerechnet. Dass das Hamburgische Verfassungsgericht unseren Gesetzentwurf in einigen Punkten beanstanden würde, war zu erwarten. Dass aber nach der erfolgreichen Volksinitiative „Rettet den Volksentscheid“ die zweite Stufe, das Volksbegehren, komplett gestoppt wurde, kam doch sehr überraschend“, so Manfred Brandt vom Hamburger Mehr-Demokratie-Landesverband. „Für alle, die Volksabstimmungen für eine wichtige Ergänzung der parlamentarischen Demokratie halten, ist dieser Spruch ein herber Schlag. Leider wird er vermutlich auch Auswirkungen auf andere Bundesländer haben.“
„Rettet den Volksentscheid“ war angetreten, um die Hamburger Erfolge aus zwanzig Jahren Demokratie-Arbeit zu erhalten. Denn 2015 hatten Senat und Bürgerschaftsmehrheit die Landesverfassung so geändert, dass sie künftig unliebsame Volksinitiativen jederzeit ausbremsen können. Die Botschaft war deutlich: Das Volk soll zwar mitreden dürfen, aber nichts zu sagen haben. Wie sich jetzt zeigt, hat sich die Initiative vergeblich dagegen gewehrt.
Verfassungsgerichtspräsident Mehmel (SPD) verlas die einstimmig gefällte Entscheidung. Danach seien zwar die formellen Voraussetzungen für das Volksbegehren in Ordnung gewesen, aber bei den Inhalten sah das Gericht einen durchgängigen Verstoß gegen höherrangiges Recht. Mehrfach bemühte das Gericht dazu das Demokratieprinzip, das nach seiner Auffassung dem parlamentarischen Gesetzgeber eine Vorrangstellung zuweise. Zitat: „Zwar sind Volkswillensbildung und parlamentarische Willensbildung hinsichtlich der hierbei gefundenen Ergebnisse gleichrangig, jedoch ist damit dem Volksgesetzgeber im Vergleich zum parlamentarischen Gesetzgeber nicht auch quantitativ und qualitativ der gleiche oder gar ein höherer Stellenwert einzuräumen.“ Auch war die Rede davon, dass das Volk immer nur Partikularinteressen vertrete, während die gewählten Abgeordneten ihrem Gewissen und dem Gemeinwohl verpflichtet seien. Manfred Brandt: „Die Entscheidung liest sich wie eine Heiligsprechung der Parteiendemokratie. Man kann es aber auch für eine Generalabrechnung mit der direkten Demokratie halten, die bekanntermaßen nicht allen Entscheidungsträgern in Hamburg gefällt.“ Dass Senatsvertreter und Bürgerschaftspräsidentin Veit (SPD) anschließend ihre Zufriedenheit äußerten, kann da kaum verwundern.
Das Gericht ließ keinen Punkt des Initiativen-Gesetzentwurfs ungerupft. So sei zum Beispiel das Kopplungsverbot nicht beachtet worden – soll heißen: Sachverhalte, die nicht unmittelbar miteinander zu tun haben, dürfen nicht verknüpft werden. Initiativensprecher sahen dies naturgemäß anders: „Wir haben eine Paketlösung vorgelegt, durch die Hamburgs Demokratie gestärkt werden sollte“, so Brandt. Anstatt sich an dem in der Schweiz üblichen Begriff der „Einheit der Materie“ zu orientieren, habe man sich dem bayerischen Verfassungsgerichtshof angeschlossen, der im Jahr 2000 das Kopplungsverbot für Volksinitiativen erfunden hatte. Hamburger Mehr-Demokraten befürchten jetzt, dass künftig jede Vorlage, die nicht ganz schlicht gestrickt daher kommt, auseinander gepflückt und für unzulässig erklärt werden könnte.
An einer Stelle gab es sogar Lacher im Publikum: Als nämlich die eher harmlose Forderung, nach der Gesetze, Rechtsvorschriften und Verordnungen in allgemein verständlicher Sprache zu verfassen seien, mit der Begründung zurückgewiesen wurde, dies sei mit der „Normenklarheit als Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips“ unvereinbar – als ob es nicht seit Jahren auf Bundesebene (z.B. in der gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien oder durch den Redaktionsstab Rechtssprache beim Bundesjustizministerium) Bemühungen gäbe, Gesetze verständlicher zu formulieren.
Besonders überraschend fanden die Vertrauensleute von „Rettet den Volksentscheid“ den Umstand, dass keiner der Punkte, die jetzt für verfassungswidrig erklärt wurden, bei der mündlichen Verhandlung Monate zuvor überhaupt zur Sprache gekommen war. Und bei der Verkündung gab es für die Anwälte der Initiative keine Möglichkeit zur Stellungnahme. Ein solcher Verfahrensverlauf sei unüblich bis merkwürdig, findet Manfred Brandt.
Ursprünglich sollte die dreiwöchige Straßensammlung für das Volksbegehren „Rettet den Volksentscheid“ im vergangenen Juni stattfinden. Nachdem der Senat beim Verfassungsgericht die Überprüfung des Gesetzentwurfs beantragt hatte, verschob sich der Zeitplan. Die Initiative stellte sich auf eine Unterschriftensammlung rund um Weihnachten ein – den letztmöglichen Termin, um im Falle eines Erfolgs den Volksentscheid am Tag der Bundestagswahl 2017 abhalten zu können. Daraus wird nun nichts.
Bei einer außerordentlichen Landesmitgliederversammlung von Mehr Demokratie war die Stimmung dennoch positiv bis kämpferisch. Auch im Initiativenbündnis überwiegt die Meinung: Wir haben noch viel zu tun, wenn diese Stadt demokratischer werden soll. Ein erstes Zeichen wurde bereits gesetzt: Der Trägerkreis heißt jetzt nicht mehr „Rettet den Volksentscheid“, sondern „Starkes Hamburg“.